Carlton-Europe – aus zwei Geschichten wurde ein Erfolg

In 125 Jahren wurde aus den beiden Häusern De l’Europe und Brünig et l’Univers in Interlaken das Carlton-Europe. Dazu beigetragen haben die Umstände (Zweiter Weltkrieg), weitsichtige Unternehmerfamilien und mutige Entscheide. Heute hat das Carlton-Europe eine klare und erfolgreiche Positionierung.



Im Jahr 1898 wurde der nördliche Teil des De l’Europe erbaut, 1908 folgte der südliche Teil. Beide Bauten entstanden unter der Besitzerschaft von Karl Ritschard, einem ehemaligen Beamten aus Muri. Ein Werbeprospekt pries das Hotel damals: «Das Hotel ist behaglich und komfortabel eingerichtet und besitzt verschiedene Gesellschaftsräume, einen Lift sowie mehrere bestens eingerichtete Bäder, eine Zentralheizungsanlage und ausgezeichnete Betten.» Dies verdeutlicht, dass das Haus äusserst modern war – technische Errungenschaften wie Lift und Zentralheizung waren damals noch nicht Standard.


Auch das um 1900 erbaute Brünig et l’Univers war am Puls der Zeit und konnte unter anderem mit Privatbadezimmern aufwarten – eine absolute Besonderheit. Im De l’Europe übernahm 1924 die Familie Kuchen das Steuer. Ganze 57 Jahre blieb das Hotel in ihrem Besitz. Grosse Umwälzungen brachte das Jahr 1939: Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde das Haus – es hiess inzwischen Hotel Europe – als Militärsanitätsanstalt genutzt. Während der ganzen Kriegsdauer blieb das Europe für zahlende Gäste geschlossen und beherbergte Soldaten.


Neuanfang nach dem Krieg

Für die Wiedereröffnung nach Kriegsende war eine gründliche Renovation vonnöten, bei der sich der Bund an den Kosten beteiligte. Auch für das Brünig et l’Univers brachte das Kriegsende einen Neuanfang. Das Haus ging in den Besitz der Familie Affentranger über und hatte seinen Namen ebenfalls geändert: Hotel Carlton. Die Familie sollte den Betrieb mehr als 50 Jahre führen.


Ein grosser Umbau folgte im Europe im Jahr 1966, bei dem das Dach, die Fassade und das alte Waschhaus umgebaut wurden. Zusätzlich erhielt das Hotel einen Saalanbau, den noch heute vorhandenen Saal de la Gare.


1981 endete die Ära Kuchen. Es folgten verschiedene Besitzer, wobei keiner das Haus länger führte. Mit der Jahrtausendwende schien auch die bewegte Geschichte des Hotel Europe zu Ende zu gehen. Die wirtschaftlichen Erträge reichten nicht aus, um die dringend erforderlichen Renovationen vorzunehmen und die Sicherheitsauflagen zu erfüllen. Das Haus ging Konkurs. Die UBS übernahm und der Abbruch des altehrwürdigen Gebäudes stand im Raum. Auch für das Carlton waren die Zeiten nicht einfach. Aufgrund einer fehlenden Nachfolgeregelung war die Zukunft des Hauses völlig offen.


Aus zwei wird eins

In diesem sehr unsicheren Stadium traten Stephan JJ. Maeder und seine Partner auf den Plan. 2001 erwarben sie das Europe und 2005 das Carlton. Die beiden Häuser wurden daraufhin konzeptionell und architektonisch – neuer gemeinsamer Empfangsbereich – verbunden. Das Carlton-Europe war ge boren. Welche Motivation stand hinter dem anspruchsvollen Projekt?


Stephan JJ. Maeder, Miteigentümer Carlton Europe, Interlaken.












Stephan JJ. Maeder erläutert: «Unser grosses Anliegen war es, die beiden historischen Hotels zu retten. Wir wollten zeigen, dass man auch mit solchen Häusern erfolgreich wirtschaften kann. Es gibt in Interlaken viele Hotels, die nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form existieren. Wunderschöne Hotels wurden abgerissen oder umgenutzt. Das hat uns motiviert, etwas aus der Historie zu machen.»


Historische Häuser bringen natürlich einige Herausforderungen mit sich. So gab es beispielsweise bei der Haustechnik einige Überraschungen. «Doch es gelang, die Hotels wieder auf den rechten Weg zu bringen», blickt Maeder auf die Startphase zurück und ergänzt: «Ich bin der Typ Mensch, der sehr emotional an solche Projekte herantritt.» So mussten auch Mehrkosten in Kauf genommen werden. Abschrecken liessen sich die Partner davon nicht. «Alles, was verdient wurde, wurde gleich wieder investiert.» Dennoch war ihnen klar, dass die beiden Häuser längerfristig nur zusammen betriebswirtschaftlich überleben konnten. So wurden gemeinsame Lösungen für die Hotelküche oder im Wellnessbereich gefunden.


Geschichte schafft Gelassenheit

Vom deutschen Philosophen Odo Marquard stammt der berühmte Sinnspruch «Zukunft braucht Herkunft». Ein Menschenleben ist zu kurz, um alles aufs Neue aus dem Nichts zu gestalten. Auch Stephan JJ. Maeder zieht einiges aus der reichhaltigen Geschichte der beiden Häuser: «In so schwierigen Situationen wie der Pandemie beruhigt es, in einem Haus zu arbeiten, das schon viel Schlimmeres überstanden hat.» Generell gebe die Historie der Häuser die Gelassenheit, nicht auf jeden Trend aufspringen zu müssen. Aber es galt auch alte Zöpfe abzuschneiden.


Man muss sich als Hotelier der Welt öffnen und der Diversifizierung der Gesellschaft Rechnung tragen. So hat das Carlton-Europe das Prädikat «gay-friendly». Dies wird nicht sehr aktiv beworben, sondern es geht vor allem darum, die Mitarbeitenden zu sensibilisieren. Wenn zwei Herren ein Zimmer buchen, sollen sie nicht gefragt werden, ob sie nicht doch eher zwei Einzelzimmer wollen. Auch Sprüche über getrennte Betten sind nicht angebracht.


Nach Stephan JJ. Maeder gibt es viel zu viele Hotels, die dasselbe anbieten; dabei sei eine klare Positionierung das A und O erfolgreichen Wirtschaftens. So kann man das Carlton-Europe schon fast als ein museales Hotel bezeichnen, in dem Geschichte erlebbar wird. Im ganzen Haus sind historische Artefakte ausgestellt; so ist beispielsweise ist die Telefonentwicklung abgebildet. In jedem Gang und in jedem Raum gibt es Spannendes zu entdecken. Viele der Ausstellungsstücke stammen von Einheimischen, und so kann man im Carlton-Europe in die Geschichte Interlakens eintauchen.


Jedes Hotel braucht eine DNA

Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal des Hauses ist, dass es sich als «adults only»-Hotel positioniert. Als sich Stephan JJ. Maeder dazu entschied, diesen Schritt zu wagen, sorgte dies für einigen Wirbel und negative Berichterstattungen. Inzwischen hat es sich als Erfolg erwiesen: «Wir können die Zielgruppen, die wir ansprechen möchten, besser abholen. Plötzlich hatten wir Stammgäste, was vorher weniger der Fall war.» Stephan JJ. Maeder ist überzeugt, dass Hotels davon profitieren, wenn sie eine eindeutige DNA haben; wenn der Gast weiss, wieso er in genau dieses Haus soll: «Es passt nicht jeder Gast zu mir, und ich passe nicht zu jedem Gast. Ein Hotel kann nicht für alle geeignet sein. Wenn man es allen recht machen will, funktioniert es nicht.»

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